Wildpark Monts d'Azur : Verständnis für die Natur schaffen
Am Fuße der Bergkette Cheiron oberhalb von Grasse, in einer Höhe von 1100 bis 1600 m ü.M., schon tief in den französischen Seealpen, befindet sich der weitflächige, mehrere hundert Hektar große Wildpark Réserve des Monts d’Azur. Frei leben in dieser naturbelassenen Voralpenlandschaft mehrere hundert, uralte und sehr seltene Arten der europäischen Fauna, darunter Elche, Hirsche, Wildschweine, Przewalski-Pferde, Rehe, Gämsen, Bison, Füchse, Frösche, Lurche, Libellen, Schmetterlinge, Steinadler, Geier…
In Begleitung erfahrener Führer können die Tiere des Wildreservats gesichtet werden, und das in einer atemberaubenden Kulisse aus von Wasserläufen und Weihern durchzogenen Prärien und schattigen Wälder der alpenländischen Südflanke. Freilich läuft die "Safari" genannte Besichtigung in einer angemessenen Entfernung ab, um die Tierwelt nicht zu stören, aber man kommt schon bis auf etwa zwanzig Meter an die Herden heran. Wir sind hier nur Gäste, die diese Naturwelt für einige Augenblicke richtig riechen, schmecken und fühlen dürfen.
Das Biosphärenreservat ist fast ganzjährig geöffnet (außer Anfang November bis Anfang Dezember), selbst im Winter ist der Wildpark mit Pferdeschlitten zu besichtigen. Besonders interessant ist es aber im Frühjahr, wenn das Jungwild seine ersten Gehversuche macht, und auch im beginnenden Herbst während der Rotwildbrunft. Die Besichtigung dauert zu Fuß etwa zwei Stunden. Wer sich das nicht zutraut, und vor allem für kleine Kinder, wird auch eine Tour in Pferdekutschen geboten.
Alena und Patrice Longour gründeten 2003 den Wildpark.
Der Wildpark Monts d'Azur wurde 2003 von dem Tierarzt Patrice Longour und seiner Frau Alena gegründet und drei Jahre später tatsächlich zu einem biologischen Reservat, als das Paar 15 Europäische Bison und einige Przewalskis Pferd aus dem polnischen Białowieża-Wald nach Frankreich brachten, um sie vor dem Aussterben zu schützen. Das symbolisiert auch das Logo des Wildparks, ein helles galoppierendes Wildpferd und dahinter ein dunkler, hochnackiger Bison.
Ausschlaggebend für die Reservatsgründung in den französischen Seealpen waren der Präsident von Botswana Ian Khama (linkes Photo), die Erfahrung im Okavango-Deltas und der Mitstreiter und ehemalige Kapitän der französischen Rugbynationalmannschaft Jeff Tordo.
Zuvor war er jahrelang im Norden von Botswana aktiv, wo er sich mit Unterstützung seines Freund Daniel Baubet, ebenfalls Tierarzt, und Jean-François „Jeff“ Tordo aus Nizza, dem ehemaligen Kapitän der französische Rugby-Nationalmannschaft, für den Schutz des Okavango-Deltas einsetzte. Es ist das größte Binnendelta der Erde, wo Jahr für Jahr der Okavango Fluss in der Kalahari-Wüste versickert und dabei ein riesiges, extrem tierreiches Feuchtgebiet entstehen lässt. Ein Treffen mit dem traditionellen Häuptling der Region und zukünftigen Präsidenten Botswanas, Seretse Ian Khama, gab den Ausschlag zur Gründung dieses französischen Wildreservats, als er gegenüber Longour bemerkte, wieso sich eigentlich die Europäer hier berufen fühlten, den Afrikanern Naturschutzunterricht zu erteilen, wo doch selbst daheim in Europa viele Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind.
Alena und Patrice Longour in ihrem Biosphärenreservat
Heute beherbergt das Reservat Monts d'Azur eine Herde von etwa fünfzig europäischen Bisons und fast ebenso viele Wildpferde, die in friedlicher Freiheit mit der gesamten lokalen Fauna leben. Dabei hat auch die Artenvielfalt des Reservats deutlich zugenommen. Zudem zeigt der Wildpark, dass diese Artengemeinschaft großer Pflanzenfresser, vor allem aber die Herden aus Wildpferden und Bison sehr nützlich sind für europäische Wildlandschaften, vor allem, um von der Landwirtschaft aufgegebene Grossflächen zu unterhalten. Wie man bei einem Besuch des Reservats erfahren kann, erweisen sich besonders die Wildpferde als lebende Rasenmäher. Letztlich geht es um eine konrete Umsetzung eines erfolgreichen Schutzes von Ökosystemen. So hat sich beispielsweise die Anzahl der ursprünglich hier ansässigen 80 Vogelarten seit dem Jahre 2005 praktisch verdoppelt.
Zahlreiche andere Herausforderungen bleiben bestehen, so der Hirschbestand. Wenige Jahre nach dem 2.Weltkreg wurden im Grasser Voralpenland vier Hirsche eingeführt. Doch sollte es noch Jahrzehnte dauen, bis eine nennenswerte Ansiedlung zu beobachten war, welche aber sogleich mangels genetischer Vielfalt in diesem isolierten Bergmassiv zur Bedrohung wurde. Was tun, dass diese so verwundbare Tierpopulation sich besser an Gesundheitsrisiken und außergewöhnliche klimatische Ereignisse besser anpassen kann? „Neues Blut“ musste her, um eine genetische Verarmung zu verhindern, weshalb seit Mitte 2021 weitere 36 Hirsche und Hirschkühe freigelassen wurden. Heute gibt es im Reservat 150 Hirsche.
Bisonherde beim Grasen im Wildpark Monts d'Azur
Ja, gleich am Beginn der Führung macht es der Guide klar. Es geht hier um soviel mehr, als bloß hier hoch zu fahren, um von sich und einigen Bisons ein Selfie zu schießen. Der Wildpark will seine Besucher sensibilisieren, angesichts des Klimawandels, der Umweltverschmutzung, des Artensterbens…
Przewalski-Pferd
Dabei kommt unweigerlich Tschernobyl in den Sinn, wegen des lange vom Aussterben bedrohten mongolischen Przewalski-Wildpferdes. Denn, als sich im Jahre 1986 die Reaktorkatastrophe ereignete, hätte wohl niemand gedacht, dass das Gebiet rund um das AKW wenige Jahrzehnte später zu einem regelrechten Tier- und Pflanzenparadies werden könnte, insbesondere für Przewalski-Pferde. Doch die Natur ist zäh und scheint mit der immer noch allgegenwärtigen Strahlenverseuchung gut zu Recht zu kommen.
Am 26. April 1986 kam es im Atomkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU. Die Reaktorhavarie löste die bis dahin schwerste Katastrophe in der Geschichte der zivil genutzten Kernenergie aus. Doch die Natur ist zäh und scheint mit der immer noch allgegenwärtigen Strahlenverseuchung gut zu Recht zu kommen.
Das gilt, leider aber nur bedingt, auch für die 31 Pferde, die im Jahr 1998 in der radioaktiven Sperrzone um den explodierten Kernreaktor angesiedelt worden waren, um die lokale Tierwelt zu bereichern. 2003 erreichte die Population mit 65 Tieren ihren Höchststand. Es schien, als habe dieses Urpferd, dessen Äußeres sich seit gut 20.000 Jahren nicht verändert hat, auch unter diesen besonderen Umständen die richtige Überlebensstrategie entwickelt. Galt es Ende des Zweiten Weltkrieges als ausgerottet, ist mittlerweile ihre Zahl leider wieder drastisch zurückgegangen. Nicht etwa wegen der Strahlenbelastung, sondern wegen der Menschen, die hier wildern, um an billiges Pferdefleisch zu kommen. Auch wegen Atom- und Kraftwerkslobbyisten, die um den ummantelten Reaktor herum planen, den weltweit größten radioaktiven Endlagerbetrieb zu errichten.
Die Bilanz nach dem Sturm „Alex“ im Oktober 2020 ist ernüchternd: Mehrere Menschen sterben, Tierkadaver verwesen, ganze Dörfer sind verwüstet, Gebäude und Brücken zerstört. Besonders hart betroffen war das Dorf Breil-sur-Roya in den französischen Seealpen.
So gilt die Zukunft der Urwildpferde in diesem unwirklichen Naturidyll namens Tschernobyl heute als höchst ungewiss, zumal wegen des Krieges die Pläne für ein Biosphärenreservat überhaupt nicht vorankommen, obwohl heute die radioaktive Situation in der Zone ziemlich unter Kontrolle sein soll. In der Stadt Tschernobyl liegt die Strahlendosis heute bei 0,17, kaum mehr – laut Statistik des Bundesamtes für Strahlenforschung - als beispielsweise in der Kölner Innenstadt oder in der Stadt Nürnberg, wo die natürlich vorkommende Strahlung bei 0,14 bis 0,15 Mikrosievert pro Stunde liegt.
Bei der Besichtigung des Reserve Monts d’Azur stellte eine Mitbesucherin dem Führer die Frage, ob hier auch Tiere sterben würden… Freilich, deren Kadaver werden ins Unterholz der höheren Lagen gebracht und dienen dann anderen Tieren als Nahrung..., ein natürlicher Kreislauf. Die Antwort des Führers versetzt die kleine Besuchergruppe in Schweigen.
Vielleicht bin ich nicht der einzige, dem dabei Goethe in den Sinn kommt: „Über allen Gipfeln ist Ruh', in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch…“, ja, wir sind nur Gast.
Praktische Infos : reserve-biologique.com
Adresse : 2651 route des châteaux, 06750 THORENC
Google-Maps : https://www.google.com/maps/dir//R%C3%A9serve+Biologique+des+Monts+d'Azur,+2651+Route+des+Ch%C3%A2teaux,+06750+Andon/@43.8049886,6.8431416,17z/data=!4m9!4m8!1m0!1m5!1m1!1s0x12cc3bf01f8881ed:0x81a6ccf891ec93d0!2m2!1d6.8453303!2d43.8049886!3e0?entry=ttu
Anfahrt : Der Park liegt gute 50 km von Antibes entfernt, ein eigenes Fahrzeug ist nötig. Man kann aus Anfahrt und Rückfahrt eine ganztägige, 130 km lange Rundtour machen, mit unterwegs zahlreichen Dörfern, die zu einer kurzen Besichtigung einladen. Beginnend in Antibes fährt man über Valbonne, Opio, Bar-sur-Loup durch die fantastischen Schluchten Gorges du Loup zunächst bis Gréolières. Dort gibt es Picknickbänke, auch ein sehr gutes Restaurant, La Vieille Auberge (provenzalisches Mittagsmenu 29 €, dienstags geschlossen, Tel. 0493590302).
Ab Gréolières sind es nur noch gute zehn Kiliometer Richtung Thorenc bis zum Wildpark, wo ebenfalls ein Restaurant betrieben wird. Die Rückfahrt empfiehlt sich über die kleine Passstraße Col de Castellaras hinab durch die Seealpen bis Saint-Vallier, wo man gemütlich in einem Café ein Eis essen, oder einen Espresso trinken kann. Danach geht es zu einem weiteren Adlerhorst-Dorf, Cabris, und dann hinab nach Grasse und zurück nach Antibes.
Copyright : Johannes Samuel, 08/2023