Antibes : Sarah und Martel
Hungersnöte, Überschwemmungen, Missernten und Pest zeichneten die Epoche der Völkerwanderung nach dem Tode des römischen Kaisers Theodosius im Jahre 395 in der Provence. Es waren die düstersten Zeiten der Geschichte, und sie wollten und wollten nicht enden…
Als 711 auch noch eine Invasion durch die Sarazenen anstand, nachdem diese den westgotischen König Roderich besiegten und die Straße von Gibraltar überschritten hatten, wurde die Misere noch schlimmer. Und bald schon standen die maurischen Krieger vor den Toren der alten Stadt Antibes. Sie hatten am 20.August 730 die Festung auf der Lérinsinsel Saint-Honorat eingenommen und 500 Mönche zu Tode geschunden, machten sich daran die gesamte Gegend zu plündern, die Frauen zu vergewaltigen, brandzuschatzen… Erst Karl Martel konnte 732 bei Potiers die Sarazenen zurückschlagen. Dank des redegewandten Mönches Eblon, der im Auftrag Karl Martels Truppen in der Provence zusammenführen sollte, hatten auch die Adelsherren der Gegend Soldaten entsandt.
Nun wird erzählt, dass zu jener Zeit im mittelalterlichen Antibes ein Edelmann lebte, welcher ebenfalls Martel genannt wurde. Durch besondere Tapferkeit im Kampf gegen die Sarazenen hatte er es zu hohem Ansehen gebracht. Mit seinen getreuen Soldaten hatte er das Gelübde abgelegt, keinem Mädchen nahe zu kommen, geschweige die Ehe zu versprechen, solange der Feind nicht gänzlich aus der teuren Heimat vertrieben wäre.
Eines Tages aber ließ ihn das Schicksal zufällig eine gewisse Sarah treffen. Mit gesenktem Blick stand sie vor ihm. Er hob mit seiner Rechten ihr Kinn sanft an, und sah in ihre Augen. Da erkannte er sie, zunächst bestürzt, doch schon bald überwältigt: das bezaubernde Mädchen war niemand anderes als die wunderschöne Tochter des Maurenführers. Sarahs sanft lächelndes Gesicht strahlte ihn unschuldig an. Es war für beide Liebe auf den ersten Blick. Wie angewurzelt standen sie da, vergaßen Zeit und Umstände. Zärtlich streichelte er ihre schwarz glänzenden Haare. Behutsam legte Sarah ihren Kopf auf seine Brust… Plötzlich verdunkelte sich der Himmel und ein greller Blitz gefolgt von einem schallenden Donner liess die beiden zusammenzucken. Der Unmöglichkeit einer solchen Liebe zwischen Menschen zweier, verfeindeter Welten schlagartig bewusst, wies Martel sämtliche Gefühle von sich und lief umgehend davon. Sein Gelübde wollte er auf keinen Fall brechen. Nein, nie und nimmer wollte er Sarah wiedersehen.
Doch eines Sommerabends begegnete er ihr an einem Brunnen und warf sich der Geliebten zu Füssen. Sogleich tat sich eine Schlucht auf und riss das ungleiche Paar in die Fluten des tiefen Meeres. Kein Mensch hat sie seither wieder gesehen.
In Juan-les-Pins gleich landeinwärts hinter der Pinède heißt heute noch der bewaldete, kleine Park, wo einst der Brunnen stand, Parc Saramartel. Es ist eine friedliche Idylle zwischen dem teils maurischen, teils provenzalischen Villenflair den Straßenzügen der Avenue d'Alger, Avenue d'Oran und Avenue de Constantine im Osten, der Kirche Nôtre-Dame–de-la-Pinède im Westen und der Synagoge dazwischen. Und jedes Mal, wenn ein junges Liebespaar Händchen haltend auf einer der Parkbänke schüchtern sitzt, muss man unweigerlich an Sarah und Martel denken, vor allem wenn die beiden Verliebten aus unterschiedlichen Kulturen stammen.